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BERICHT ÜBER EIN UNGEWÖHNLICHES EXPERIMENT

B Dr Frits Bernard, Klinischer Psychologe

Die ersten Ansätze einer pädophilen Emanzipation stammen aus den fünfziger Jahren. Der Enclave Kreis, damals noch in Den Haag, war der Anfang. Dieser Kreis entwickelte sich später in den sechziger Jahren zur internationalen Enclave-Bewegung. Ein richtiger Durchstart fand jedoch nicht statt bevor 1970, als der Niederländische Verein für Sexualreform (NVSH), anfing sich zu interessieren für diese Thematik. Es entstanden Arbeitsgruppen in mehr als fünfzehn Ortschaften. In andere europäische Länder, in Amerika und Autralien entstanden gleichfalls Gruppierungen, meist nach niederländischem Muster. Hierüber gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur. Der treue, vielleicht etwas ältere Leser weiss, dass die Thematik aus unterschiedlicher Optik seit 1972 öfters in Sexualmedizin behandelt wurde.

Die Zeit ist reif für eine Analyse des Werdeganges dieser emanzipatorischen Bewegung. Nach C.Straver (Homofilie in Nederland, Intermediair 1972) haben Emanzipationsprozesse drei Phasen, die nach meiner Meinung auch in diesem Bereich anwendbar sind.

Phase 1: Eine elitäre Vorhut tritt hervor, um in gemässigter Weise die Interessen der Gruppe gegenüber den herrschenden Kreisen von Regierung und Gesellschaft mit ihren vorherrschenden Meinungen zu vertreten, appellierend und vertrauend auf deren Gerechtigkeitssinn und Vorurteilsfreiheit.

Phase 2: In gegenseitigem Zusammenstehen bildet die Gruppe ihre eigene Identität und arbeitet an der Stärkung des Selbstbewusstseins. Der Akzent liegt hier auf Selbstbestimung, doch es gestalten sich nur wenige Initiativen nach aussen.

Phase 3: Die Gruppe tritt hervor mit einer Strategie, Forderungen bewilligt zu bekommen, konfrontiert die herrschende Gesellschaft mit ihrem Bestehen auf dem guten Recht, ihre Forderungen mittels Aufklärung und (provozierenden) Aktionen durchzusetzen. Der Akzent liegt hier auf Aktivitäten zur Integration in die Gesellschaft, um als gleichberechtigt angesehen zu werden. Hilfe und Sorge füreinander nehmen jetzt den zweiten Platz ein.

Tatsächlich ist dieser Werdegang im Rückblick grosso modo auch bei diesem Experiment der Fall. Die erste Phase umfasst die Anfangszeit; eine erste allgemeine Orientierung findet statt, Kontakte werden gelegt, Aufklärungstexte erscheinen. Dann folgt während der zweiten Phase die Suche nach mehr Selbstbewusstsein. Das Geselligkeitsleben in eigenem Kreis wird als wichtig erfahren. Die Aktivitäten nach aussen werden weiter ausgebaut. In der dritten Phase spielen beide Aspekte eine stets grössere Rolle, die Mitglieder bekommen Zugang zu den Medien. Im Umfeld entseht Verständnis und Akzeptanz. Eine Mentalitätsveränderung kündigt sich an, intergenerationelle Verhältnisse und Kontakte werden besprechbar. Es herrscht Offenheit. Bis Ende der siebziger Jahre schien das Experiment zu gelingen, es wurde so einiges erreicht, auch international, und es liess sich ansehen, dass die Errungenschaften eine nachhaltige Wirkung haben würden. Es kam anders.

Nach Rineke van Daalen und Bram Stolk brachte das Aufdecken des Inzests eine Wende. Sie schreiben in ihren Artikel Psychosoziale Hilfe bei Problemen bezüglich Homosexualität, Pädophilie und sexuellem Missbrauch (De Psycholoog, Fachzeitschrift der niederländischen Psychologen, Jahrgang 28, 7/8, 1993):

Ausgehend vom Inhalt der Diskussion schienen die damaligen Aussichten für eine wesentliche Verbesserung der Lage der Pädophilen in der Gesellschaft lange nicht schlecht (Seite 287).

Nach Meinung der Autoren scheiterte die Akzeptanz der Pädophilen an den aufkommenden Debatten über sexuellen Missbrauch und Gewalt. Die Gesellschaft kehrte sich gegen die Pädophilen. Es wurde wieder akzeptabel, Pädophile als Kranke und Straftäter zu betrachten.

Auch Herman De Coninck, in Belgien, kommt in seinem Artikel Pedofilie: Alles moet kunnen! Maar niet met mijn kind. (Alles darf! Aber nicht mit meinem Kind), HUMO, 3.2.1994, zur Schlussfolgerung, dass die Pädophilen ihr Ziel fast erreicht hatten.

In seinem Buch Die Lust am Kind; Porträt des Pädophilen, kommt Rüdiger Lautmann (1994) zu der Schlussfolgerung, dass diese abgrenzbare Sexualform sich an eine Ethik bindet. Er schreibt: "...sie bringen es tatsächlich fertig, sich eine Art Kodex zu geben, obwohl ihnen keine Instanz dabei hilft. Das ist umso erstaunlicher, als ihre Lage im gesellschaftlichen Abseits eher eine völlige Bindungslosigkeit erwarten liesse" (Seite 126). Und weiter lesen wir : "Andere Sexualformen, die ebenfalls verachtet sind, haben es durchaus nicht soweit gebracht" (Seite 128).

Ohne Zweifel ist oben beschriebenes langjähriges Experiment für die Gesellschaft in der wir leben nicht unwichtig. Eine neuere Untersuchung des Niederländischen Instituts für präventive Gesundheitspflege (NIPG) und TNO in Leiden ergab, dass 17,6% der niederländischen Jungen (Schüler) sich öfters körperlich hingezogen fühlen zu Jugendlichen und erwachsenen Männern. Bei Türkischen Jungen sind es 46,8% und bei Marokkanern 35,4%. Die Untersuchung wurde im Jahre 1989 durchgeführt: N = 11.431 Schüler zwischen 12 und 18 Jahren (NIPG-publikatie, Leiden, September 1993). Eine Untersuchung beim Kindertelefon ergab, dass während des zweiten Vierteljahres 1993 um die fünfhundert Jungen über Sex-Kontakte innerhalb der Familie oder mit Personen aus dem Bekanntenkreis berichteten, die nicht als problematisch erlebt wurden (Over welke seks spreken jongens met de Kindertelefoon? Ueber welche Art von Sex sprechen Jungs am Kindertelefon?, Volkskrant, 23.02.1994). Die gesellschaftliche Relevanz dieser Untersuchungen wird hier deutlich. Das sammeln von Daten ist und bleibt für die Sexualwissenschaft von grösster Bedeutung. Die Wirklichkeit ist oft anders als man denkt.

Alles deutet darauf hin, dass die Einstellung zur Pädophilie kulturell bedingt ist, sie kann sich also ändern. Wir befinden uns zur Zeit mitten in einem neuen Konfliktfeld, das zu einer seriösen politischen Diskussion auffordert, die bis jetzt aber leider ausgeblieben ist.

Ich möchte diese kurze Analyse enden mit einer Frage, die im Moment wohl kaum zu beantworten ist: War das, was ich ein Experiment nannte, ein historisches Unikum?

 

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