[Zurück zu Die Deutsche Seiten] [Articles & Essays - B]
‘Es wird schon wieder gut werden. Irgendwann einmal’Thema: die Zukunft der JungenliebeDr. Frits Bernard, in KOINOS # 51 (2006 #3)
Bevor wir uns mit der Zukunft der Liebe zu den Jungen befassen, liegt es auf der Hand, einmal der Frage nachzugehen, welchen Stellenwert die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen innerhalb des Ganzen der Vita sexualis, des Sexuallebens, einnehmen. Dass es Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen beim Menschen überall und zu jeder Zeit gegeben hat – und immer noch gibt -, ist bekannt. Ausführliche Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass auch Sexualkontakte zwischen älteren und jüngeren Tieren ein natürliches Phänomen sind, die innerhalb der sozialen Organisation oder Struktur der Gattung ihren Platz haben. Das gilt unter anderem für Vögel. Bruce Bagermihl untersuchte eine nahezu endlose Reihe von Vögeln und fand solches Verhalten überall. Es kommen sowohl heterosexuelle wie auch homosexuelle Beziehungen vor, die mitunter lange Zeit fortbestehen können. Auch Gruppensex ist keine Ausnahme. Diese reiche Verschiedenheit an Verhaltensformen bei Vögeln wird in Bagermihls meisterhaftem Werk Biological Exuberance (1998) beschrieben. Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen scheinen biologisch begründet zu sein und haben eine Funktion innerhalb der sozialen Struktur: Schutz gewähren und Schutz suchen. Sie spielen eine Rolle im Lernprozess. Evolutionär scheint dies von Bedeutung zu sein. Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen sind also viel älter als die Menschheit und auch viel allgemeiner, als gemeinhin angenommen wird. Die oben genannten Studien und viele Beobachtungen bestätigen dies. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Im Tierreich vollzieht sich alles viel instinktiver, beim Menschen kommt die Ratio hinzu, die Vernunft, das Denkvermögen, die logische Begabung. Und eben diese Ratio ist es, die uns die Suppe versalzt. Das Denkvermögen ermöglicht dem Menschen, viele verschiedene neue Strukturen zu schaffen, neue Gedanken und Ansichten zu entwickeln. Wir sollten dabei aber einen Schritt weiter gehen, als normalerweise geschieht, wodurch man Vorurteile überwinden könnte. Negative EinflüsseEs gibt einige negative Einflüsse, welche die Liebe zu den Jungen gesellschaftlich in eine schwierige Lage geraten lassen. Einen davon möchte ich an dieser Stelle erörtern: das zum Instrument gewordene Scheinurteil. Der Mensch neigt von Natur aus dazu, Vorurteile zu entwickeln. Dem Vorurteil bieten sich gute Chancen, auch oder gerade in Sexualibus. Der Mensch hat ja einen Hang zum Generalisieren und zum Entwickeln von so genannten Stereotypen oder, anders gesagt, von undifferenzierten Kategorien; zum Beispiel: ‘Jungenliebhaber sind gefährlich’. Die Wirklichkeit wird vereinfacht und in eine Art von Foto zusammengefasst. Das Vorurteil – das heißt, ein Urteil, das man ohne objektive Kriterien fällt – wird nicht verifiziert und korrigiert. Es ist ein Scheinurteil, das obendrein meistens negativ ist. Das Vorurteil ist ein zum Instrument gewordenes Scheinurteil. So kann durch eine falsche Ansicht oder durch simplifizierende Abstraktionen der Wirklichkeit (Generalisierungen) eine feindliche Einstellung gegenüber anderen Gruppen entstehen. Neue Fakten, auch wissenschaftliche, werden nicht akzeptiert oder verarbeitet, im Gegenteil: Man wehrt sich dagegen. Das ist eben der Fall bei einigen Formen des Sexualverhaltens. Manchmal genügt eine einzige unangenehme Erfahrung mit einer Person einer bestimmten Rasse oder Religion oder mit einer bestimmten sexuellen Einstellung, um eine generelle Abneigung aufrechtzuerhalten. Vorurteile werden unbewusst auf andere übertragen, sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Diskriminierung ist dann bald mit im Spiel, und auch Aggression. Da hat Verfolgung freie Bahn. Im Grunde ist jede Gesellschaft multisexuell. Die Liebe zu den Jungen befindet sich aber seit vielen Jahren in einem sehr gefährlichen Fahrwasser. Die kollektive Stigmatisierung spielt dabei eine große Rolle. Gegen die negative Vorstellung kann man nur schwer ankämpfen. Es ist offensichtlich, dass wir heutzutage in einer repressiven Gesellschaft leben: die der Mehrheit. Was die unmittelbaren Folgen dieser Unterdrückung sind, kann man tagtäglich aus den Zeitungen und dem Fernsehen erfahren. Durch kritisches Lesen und Hinsehen werden einem die zugrunde liegenden Strukturen klar. Da Vorurteile ein allgemein menschliches Phänomen sind, liegt die Frage auf der Hand: Wie kann man etwas gegen die eigenen Vorurteile machen? Dazu muss man die eigene Isolation durchbrechen und bereit sein, mehr als nur eine Seite anzuhören und Fakten und Angaben aus allen übrigen Quellen zu akzeptieren. Auch sollte man Erfahrung sammeln, indem man den Kontakt zu denjenigen sucht, von denen man ein unrichtiges oder falsches ‘Foto’ mit sich trägt. Unterschiedliche SzenarienEs ist nach wie vor eine heikle Sache vorauszusagen, wie es in fünfzig Jahren mit der Liebe zu den Jungen bestellt sein wird. Wir haben ja (noch) keine brauchbaren Instrumente, um gesellschaftliche Entwicklungen zu prophezeien. Man kann also nur Vermutungen anstellen.
Freiheit kommt niemals von alleine, sondern muss erkämpft und verteidigt werden. Ich habe früher einiges von der Wellentheorie gehalten. Goethe sprach von einer Spirale: Alles kehrt wieder, nur auf einer anderen Ebene. Seit die Globalisierung so sehr auf dem Vormarsch ist, ziehe ich die Wellentheorie aber in Zweifel. Es treten jetzt grundlegende Veränderungen ein, die eine Voraussage noch schwieriger machen. Allerdings ist klar, dass die Veränderungen mehr auf Weltebene stattfinden werden und dass wir uns stärker auf das werden konzentrieren müssen, was weltumspannend geschieht und beschlossen wird. Über Gesetzesänderungen wird auch das Europaparlament in Brüssel zu befinden haben. Die Sache wird also komplexer und dadurch schwieriger. Ich sehe in dieser veränderten Konstellation unter anderem folgende Zukunftsmöglichkeiten:
Eine hieb- und stichfeste Prognose ist nicht möglich. Man kann nur Vermutungen anstellen, aber das war ja auch der Sinn dieses Beitrags. Trotzdem drängt sich mir eine nicht besonders schöne Vision auf: Durch die sich rapide entwickelnden technischen und elektronischen Möglichkeiten zur Überwachung von Personen wird der Spielraum für eine harmonische Entfaltung der Jungenliebe immer mehr eingeengt. In dieser Vision sehe ich eine scharf kontrollierte Gesellschaft, die sich aber am Ende selbst zugrunde richtet. Strukturen entwickeln sich und lösen sich dann selbst wieder auf. Denn: nothing is forever. Um mit dem inzwischen verstorbenen niederländischen Autor von Kurzgeschichten Carmiggelt zu sprechen: Es wird schon wieder gut werden. Irgendwann einmal. Eine Lösung?Die Neigung des Menschen, Vorurteile zu entwickeln, wird auch in fünfzig Jahren noch eine Bedrohung darstellen, denn diese Neigung ist nicht zeitbedingt. Das Rückgängigmachen einer falschen Meinungsbildung ist ein komplizierter und langwieriger Prozess. Trotzdem glaube ich, dass es wahrscheinlich immer wieder kürzere oder längere Blütezeiten geben wird. Denn auch die Liebe zu den Jungen ist dem menschlichen Dasein inhärent. Die Geschichte belegt dies. Eine jüngere Generation ist jetzt am Zug. Sie wird neue Wege finden müssen und sich für die Zukunft der Jungenliebe einsetzen müssen. Doch wo bleibt der junge tatkräftige Führer? Wer ist der neue Fahnenträger? Ist es etwa wie warten auf Godot? Ich fürchte schon, denn bei der heranwachsenden Generation verspüre ich wenig Lust, für diese Sache zu kämpfen. Ist die Gehirnwäsche bereits zu weit fortgeschritten? Wir werden uns nach wie vor für die These einsetzen müssen, dass jeder Mensch ein Recht auf seine sexuelle Identität hat. Im Grunde verstößt die Pönalisierung freiwilliger und gewünschter sexueller Handlungen – einschließlich der intergenerationellen Kontakte – gegen die elementaren Menschenrechte. Hier liegt eine Aufgabe für die Behörden, die unter anderem darin besteht, objektive Berichterstattung zu gewährleisten. Eine angepasste Legaliserung dürfte die beste Lösung sein. Denn wenn eine ganze sexuelle Minderheit unter Druck gesetzt wird, wird sich das keineswegs positiv auf ein gutes Sexualleben des (künftigen) Menschen auswirken. Quo vadis, vita sexualis? |
[Zurück zu Die Deutsche Seiten] [Articles & Essays - B]