Nanshoku
Männliche gleichgeschlechtliche
Erotik in Japan
Koinos Magazine #40 (2003/4)
und #41 (2004/1)
http://w3.to/koinos
Nanshoku,
das japanische Wort für erotische Beziehungen zwischen heranwachsenden Jungen
und erwachsenen Männern, war der am längsten bestehende und unverhohlenste
Ausdruck für die gleichgeschlechtliche Liebe in der ganzen Welt.
Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Zunächst wollen wir die Sache anhand eines fiktiven Berichts betrachten, wenn
wir den Samurai Tsūsaburō auf dem Weg ins Kabuki verfolgen. Dann
beschreiben wir das Zentrum von Tsūsaburō s Edo und betrachten wir das
Thema Nanshoku in der Literatur und der Kunst. Bis zum Untergang der Shōgune
im Jahre 1868 war Edo der Name des heutigen Tokio.
Ume yanagi sazo wakashu kana onna kana
(Pflaume und Weide, Junge oder Frau?)
— Matsuo Bashō
Edo, 1787
Ein ungewöhnlich warmes Frühlingslüftchen ließ
die Fahnen am rituellen Waschbecken des Shintō-Heiligtums auf dem Yushima-Hügel
leicht kräuseln. Besucher, die den Wohlgeruch der Pflaumenblüten genossen, drängten
sich auf dem Gelände. Tsūsaburō hielt an, um die Namen auf zwei der
Banner zu lesen: Bayō aus dem Kabukiya und Utagiku aus dem Tateya. Utagiku... das Lied der Chrysantheme, ein wunderschöner Name für einen Jungen.
Dem jungen Samurai war das Bordell, in dem Utagiku arbeitete, nicht bekannt,
aber im Kabukiya war er schon mal. An diesem Morgen war er unterwegs zu einer
echten Kabuki-Vorstellung. Er kniete sich kurz vor das Waschbecken hin und
betete sowohl um eine reizvolle Vorstellung als auch um ein glückliches
Geschick für Utagiku.
Auf seinem Weg aus dem Tempel kam Tsūsaburō
an den Aussichtspunkten vorbei, von denen aus Leute auf die sich in alle
Richtungen ausdehnende Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern, auf die die
Ryōgoku-Brücke, die sich anmutig über den Sumida-Fluss wölbte, und auf
die weiter entfernte Bucht hinunterblickten. Bald würde er an der Brücke
vorbeigehen, unterwegs zu dem Theater in dem Bezirk Yoshi-chō. Yoshi-chō
und der Yushima-Hügel waren schon seit mehr als 150 Jahren zwei der größten
Nanshoku-Bezirke in Edo. Jeder Bezirk zählte Dutzende von Teehäusern,
Bordellen, Hotels und Badehäusern, in denen sich Jungen und Männer trafen.
Tsūsaburō bahnte sich seinen Weg durch
die engen Straßen und verfolgte sein Vorankommen anhand der Schilderhäuschen,
die alle 120 Meter aufgestellt waren. Er kam an Blocks von Kleinwohnungen der
einfachen Leute vorbei. Die Namensschilder an den kleinen Eingangstoren zu den
dahinter liegenden Gassen verzeichneten Stuckateure und Handleser, Ärzte und
Kalligrafielehrer. Die Aussicht änderte sich dramatisch, als er den großen
Platz vor der Brücke erreichte. Es war der Ort, an dem sich alle Straßen von
Edo zu vereinigen schienen. Banner schmückten die hohen Gebäude am Ufer mit
Werbeplakaten für Heilmasseure und Zirkusattraktionen, darunter ein Holzkohle
fressender Strauß und ein Stachelschwein aus der gebirgigen Wildnis von Tanba.
Einige Straßenhändler boten Brühe aus Mispelblättern und in Sushi-Essig getränkten
Reis zum Verkauf an, andere holländische Stoffe, Klöße oder Inari.
Mit ihrem
Geschrei ging eine Kakophonie von Streichinstrumenten, Trommeln und Flöten
einher. Menschen von jedem Rang, Stand und Alter machten Einkäufe, besuchten
Sehenswürdigkeiten oder hetzten durch die Menge. Andere standen Schulter an
Schulter entlang dem Holzgeländer der die Ryōgoku-Brücke und schauten
sich den lebhaften Schiffsverkehr auf dem Fluss an.
Tsūsaburō s Blick fiel auf einen Mann,
der mit großer Geschicklichkeit einem Kunden im ersten Stock eines Gebäudes
eine süße Delikatesse aus Agar-Agar-Gelee, tokoroten, mit Hilfe einiger riesig
langer Ess-Stäbe hinaufreichte. Aber richtig aufmerksam wurde er auf einen Jüngling,
der sein Können an einem Blasrohrstand erprobte. Er war ein maegami, ein Junge
mit Stirnlocken und somit dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Der Bursche konnte
sich an Tsūsaburō s kostbarem, maßgeschneiderten Kimono und den
beiden Schwertern – ein langes katana und ein kurzes wakizashi – Symbole
seines Status als Adliger, nicht satt sehen. Mit einem ehrfürchtigen Grinsen
regte der Junge Tsūsaburō dazu an, mit ihm zu gehen, wobei er in
suggestiver Weise einen Pfeil in das lange Blasrohr gleiten ließ. Tsūsaburō
lächelte nur.
Vielleicht war der Junge ja bereit, einen Sumo-Kampf in Honjo zu
besuchen, genau auf der anderen Seite der Brücke. Noch besser war es, so überlegte
sich Tsūsaburō verärgert, ihn zum Fukiya-ga-hama mitzunehmen – dem
'Strand der Blasrohrspieler', einem bekanntem Jungenbordell. Aber so reizend und
scheinbar willig der Jüngling auch war, das Kabuki fing früh an und Tsūsaburō
wollte die Szene nicht verpassen, in der Hanai Saizaburoōō zum ersten
Mal auftreten würde. Er sah den Jungen an und zuckte mit den Achseln. Ein
andermal vielleicht.
Als er den Yoshi-chō-Bezirk erreicht hatte,
setzte der Samurai seinen Weg ins Nakamura-za-Theater fort. Laternen hingen an
der rotgrün gestreiften Front. Der auffällige Turm auf dem Dach mit einem
wandgroßen Banner mit schwarzen fingerförmigen Blättern zeichnete das Gebäude
als eines der drei großen Kabuki-Theater in Edo aus. Auf langen senkrechten
Aushängeschildern waren die Attraktionen jenes Tages angegeben, darunter das Bühnenstück,
für das er gekommen war, Chikamatsus Schauspiel Shinjū yoigōshin
(Gestorben vor Liebe am Vorabend des Kōshin-Festtages).
Es war ein
beliebtes Werk, dessen Thema auf Ereignisse zurückging, die sich erst wenige
Wochen vor der Uraufführung zugetragen hatten. Die Aushängeschilder waren im
Grunde überflüssig: Auf einer breiten, erhöhten Bühne vor dem Eingang saßen
die kido geisha, die heiseren Ausrufer, die mit ihren Fächern auf Passanten
zeigten und dabei die Stimmen der Schauspieler imitierten.
Auf einem Plakat über
ihren Köpfen stand, dass das Haus voll sei, aber der Kartenverkäufer war ein
alter Bekannter von Tsūsaburō . Obwohl es den Samurai nicht erlaubt
war, ins Kabuki zu gehen, wurde diese Vorschrift in den Theatern meistens kaum
beachtet. Wenige Augenblicke später setzte er, mit einer Eintrittskarte zum
Preis von viertausend mon – etwa siebzig Euro – versehen, seinen Weg zu
einer der Logen vor den Balkons fort, von der aus er den hanamichi – den
Blumenpfad – überblickte sowie den Laufsteg und eine kleinere Bühne, über
die die Schauspieler den höhlenartigen Saal betraten.
Fast in Augenhöhe zu den Schauspielern war es ein
geeigneter Platz zum Sehen und Gesehenwerden. Zu seiner Rechten sah Tsūsaburō
einen Gitterschirm auf beiden Seiten einer der Logen über den tiefer gelegenen
Sitzplätzen, der die Insassen – vielleicht ein vornehmer Samurai oder daimyō
(Großgrundbesitzer) – vor den Blicken des Publikums schützte. Der erste
Aufzug hatte bereits begonnen und die Zuschauer aßen, tranken und kommentierten
das Dargebotene.
Er nahm rechtzeitig seinen Platz ein, um zu sehen,
wie der Schauspieler, der Hanbei darstellte, ein Samurai, dessen Status auf den
eines Kaufmanns abgerutscht war, entscheiden würde, welcher der drei Adligen
der Liebe seines jüngeren Bruders, des jugendlichen Samurai-Anwärters
Koshichiroō, wert sei. Hanai Saizaburoōō würde den Koshichiroō
spielen. Tsūsaburō fragte sich, ob der junge Schauspieler seiner
hervorgehobenen Erwähnung auf dem Plakat würde gerecht werden können.
In dem Augenblick betrat der Junge über den
Hanamichi die Bühne. Tsūsaburō hielt den Atem an. Hanai war genauso
schön, wie er es vom Hörensagen wusste. Der yarō hyōbanki, der
Almanach mit Schauspielerkritiken, der im Theaterbezirk reißenden Absatz fand,
hatte nicht übertrieben. Er galt als einer der bestbezahlten wakashu-gata,
Jungendarsteller. Mit seinen fünfzehn Jahren hatte er die Ausstrahlung eines älteren
Künstlers; sein geschliffener Stil ließ die Bewegungen anderer Wakashu-gata,
so der Hōbanki, wie die unabgerichteter Falken aussehen.
Hanai schritt über den Hanamichi in weißem
Totengewand und sang mit sanfter, gespensterhafter Stimme eine Arie. Das Zupfen
der Saiten einer shamisen sorgte für eine klagende Begleitung. Frauen und Männer
im Publikum blinzelten ihm wortlose Einladungen zu nächtlicher Zweisamkeit zu.
Hanais Blick schweifte unberüü über ihre Gesichter, auch über das von Tsūsaburō
, ohne sie zu beachten. Damit befolgte er die Anweisung des Nō-Meisters
Zeami, dass ein Schauspieler sein Gesicht den Zuschauern zuwenden soll, ohne sie
– auch die Adligen unter ihnen – jemals direkt anzublicken. Dies war üblich
in dem vornehmeren Nō wie Tsūsaburō wusste, aber nicht im Kabuki,
wo die Schauspieler oft Posen einnahmen und bestimmten Personen im Publikum
besondere Blicke, uso, zuwarfen, in der Hoffnung auf einer Begegnung nach der
Vorstellung. Der Junge hatte eine bemerkenswerte Unbeirrbarkeit.
Auf der großen Bühne legte Hanbei ein paar aus
der Scheide gezogene Schwerter auf einen kleinen Opfertisch für die Männer
bereit, die sich als Liebhaber seines Bruders beworben hatten. Die fünfzig
Zentimeter langen Klingen taugten gleichermaßen zum Kampf wie zum seppuku, dem
rituellen Selbstmord. Er sagte ihnen in strengem Ton, dass, wer um die Hand
seines Bruders anhalte, bereit sein müsse, ihm in den Tod zu folgen. Während
der Erzähler des Stücks bemerkte, dass der Junge die 'höchsten Prinzipien der
Nanshoku in Ehren hält', bewegte sich Hanai, ohne ein Wort zu sagen, auf den
Tisch zu. Er stand am Tisch und lenkte den Blick von den tödlichen Waffen auf
jeden der Männer.
Tsūsaburō erinnerte sich an eine Passage
von vor hundert Jahren über Uemura Tatsuya, den jungen Schauspieler aus Osaka,
aus der Feder des großen Romanschriftstellers Saikaku: 'Wie furchterregend der
Himmel dort drüben! Wie sehr gleicht er den schönen Mignons, so geliebt von
den Edlen aus verflossenen Zeiten. Der wohlriechende Weihrauchduft in seinem
Haar... auserwählt vom Mondlicht... diese hohe, zartgliedrige Gestalt, biegsam
wie Weidenrohr: Was könnte größeren Zauber atmen?' Mag sein, dass Uemura schön
war, meditierte Tsūsaburō , aber welcher Junge besaß Hanais
katzenhafte Grazie?
Der ungebändigte Geist, der sich, wie er glaubte, möglicherweise
hinter dem ruhigen Auftreten des Jünglings verbarg, ließ sein Herz höher
schlagen. Hanai war mehr als nur schön. Ohne Zweifel war er bereits der Freund
irgendeines vornehmen Adligen, der vielleicht sogar jetzt unter den Zuschauern
war und seinen jungen Geliebten beobachtete.
De drei Samurai schreckten vor dem Anblick der
Schwerter und dem Ton von Hanbeis hartherzigen Worten zurück. Nicht so der
junge Lakai Koichibei. Während er, in einen gewöhnlichen schlichten blauen
Kimono gekleidet, einen dramatischen Auftritt machte, erklärte er sich bereit,
für die Liebe des Jungen zu sterben. Koichibei schritt zu dem Tisch und nahm
ein Schwert auf. Es glitzerte im Sonnenlicht, das von unter der überhängenden
Dachkante hereinströmte. Hanai stellte sich in Koichibeis Nähe und war bereit.
Das Publikum verstummte.
Koichibei schickte sich an, das Schwert niedersinken zu
lassen, aber plötzlich hielt Hanbei seinen Arm an und erklärte, dass
Koichibeis Charakter der aufrichtigste sei. 'Möget ihr euch immer nah sein',
sagte Hanbei, während er ihr Gelöbnis der Einheit und Treue bekräftigte. Während
sich der Mann und der Junge umarmten, gab der Erzähler seinen Kommentar dazu:
'Tiefes Blau an makelloses Weiß gedrückt – eine Brüderschaft von
unbesudelter Reinheit.'
Am Ende des Aktes schaute Tsūsaburō zu,
wie Hanai über den Hanamichi abging. Als er an Tsūsaburō s Loge
vorbeikam, blickte der Junge ihm gerade in die Augen und nickte ihm kaum merkbar
mit einem Anflug des Lächelns um die Lippen zu. Der Samurai fühlte, wie sein
Herz für einen Augenblick aussetzte.
Tsūsaburō ignorierte die geflüsterten
Bemerkungen der Umstehenden und ging den Weg ins angrenzende shibai-jaya, ein
Teehaus, in dem man Schauspielern begegnen konnte. Während er den Saal verließ,
überdachte er die Faszination des Publikums für die körperliche Schönheit
und Sexualität der Künstler. Vielleicht zeige der Schauspieler sogar seine
schwierigste Kunst, nachdem die Strohmatten – der Vorhang – heruntergelassen
worden waren, überlegte er sich. Der Schauspieler müsse jene uso bis zur
Morgenröte immer wieder vor einem oder mehreren Kunden hervorbringen. Tsūsaburō
errötete, wenn er daran dachte, wie Hanai ihn angesehen hatte, und betrat
hastig das Shibai-jaya.
Junge Schauspieler und Liebhaber (anonym, 1643)
Edo wie es war
Drei der bekannteren Nanshoku-Bezirke in Edo waren
der Yushima-Hügel, Yoshi-chō und Kobiki-chō. Die beiden
letztgenannten waren auch Theaterbezirke. Kobiki-chō lag in dem heutigen
Ginza. Der Name Yoshi-chō lebt fort in der Bezeichnung eines Straßenblocks
in einem Viertel, das heute Nihonbashi heißt. Das Fukiya-ga-hama – das
Bordell, in das Tsūsaburō in seiner Fantasie einen Jungen mitnimmt –
war ein beliebtes Jungenbordell, dessen Name ein Wortspiel mit dem Fukiya-chō-Straßenblock
in Yoshi-chō ist. Die Etablissements Kabukiya und Tateya, deren Namen Tsūsaburō
auf den Fahnen beim Shintō-Heiligtum auf dem Yushima-Hügel sieht, sind möglicherweise
erfunden. Utagiku (das 'Lied der Chrysantheme'), der Name auf einem der Fahnen,
würde als der eines Jungenprostituierten erkannt, der bei dem Heiligtum ein
Opfer gebracht hatte; die Chrysantheme war ein Symbol des Afters.
Seit kurz nach dem Bau der Ryōgoku-Brücke im
Jahre 1659 und während der darauf folgenden zweihundert Jahre war die
karnevaleske Atmosphäre des großen Platzes auf der Nihonbashi-Seite der Überspannung
das Symbol des Herzens von Edo, so wie Times Square es für das New York des
zwanzigsten Jahrhunderts gewesen ist. Blasrohrstände, wie sie Tsūsaburō
sah, sieht man oft auf Bildern aus jener Zeit (Ziel war es, eine Schnur zu
treffen, die sich dann löste und einen Preis enthüllte). Auf der gegenüberliegenden
Seite des Sumida-Flusses werden noch heute Sumo-Kämpfe veranstaltet.
Die Behörden hatten den Platz, einen hirokōji
oder großen freien Raum, als eine Brandgasse geplant und dabei vielleicht gar
nicht bedacht, dass er zum wichtigsten Zentrum des Volksvergnügens in der Stadt
werden würde. Weil es auf dem eigentlichen Hirokōji so viele Markt- und
Schaubuden gab, konzentrierte sich dort die Energie des Volkes – die 'libidinöse
Wirtschaft' von Edo, mit den Worten von J. Lyotard – während die Aussicht auf
den Fluss und die ausgedehnten Felder jenseits der Brücke ein Gefühl der
Freiheit vermittelte. Der Kontrast zwischen dem Anblick der zusammengedrängten
Buden und dem freien Raum des Flusses und der ländlichen Gegend ist in den Gemälden
und Stichen, den ukiyo-e, dargestellt, die ein Bild von Japans
'schillernder Welt des Dekadenten', von der Suche nach Genuss vermitteln.
Jilly Traganou hat bemerkt, dass in manchen Ukiyo-e
Techniken angewandt wurden, die den typisch westlichen Unterschied zwischen
Karte und Stich verwischen. Die Ukiyo-e zeigen eher ein Mosaik, das aus ohne größeren
Zusammenhang miteinander verknüpften Szenen besteht, als ein integriertes Bild,
das auf einer foto-ähnlichen visuellen Perspektive beruht. In dieser Hinsicht
sind sie eine Veranschaulichung der mittelalterlichen Ästhetik der Resonanz,
die ihren Höhepunkt in der haikai-Gedichtform des Dichters Bashō
erreichte.
Die Ästhetik der Ukiyo-e ist in der Realität vielleicht nirgendwo
deutlicher zum Ausdruck gekommen als in dem am Fuße der Ryōgoku-Brücke
gelegenen Hirokōji; wenn es einen Ort gibt, von dem man sagen könnte, dass
er das Zentrum der 'schillernden Welt' des Edo-Japan gewesen sei, so war es
vielleicht dieser.
Dass die Samurai von den Behörden aus dem Kabuki
verbannt wurden, war die Folge von Zwischenfällen wie jenem in Kyoto im Jahre
1656, als ein Samurai, aus Eifersucht über die Liebesbeweise eines
Jungendarstellers, in einer Theaterloge einen Schwertkampf vom Zaun brach. Gegen
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, nicht lange, nachdem die ersten Theater eröffnet
worden waren, war das Kabuki zu einem Zentrum der Jungenprostitution geworden.
Das Kabuki war in einen ständigen ideologischen Kampf mit dem Staat verwickelt.
So schreibt Steven Heine, dass das Kabuki 'eine permanente Gegenstruktur' sei
... 'welche die Antithese und die Ablehnung der puritanischen, von Japan übernommenen
konfuzianischen Werte repräsentierten, zu denen sich die Schogune bekannten.'
Von den Samurai als Mitgliedern der herrschenden Klasse wurde erwartet, dass sie
diese Werte hochhielten; die Liebe zu den Jungen war zulässig, aber die
Anwesenheit bei Belustigungen für die niederen Stände nicht. Viele Samurai
gaben sich beiden Vergnügungen hin und daher die in der Erzählung erwähnten
abgeschirmten Logen.
Obwohl zu Tsūsaburō s Zeit viele auf
Nanshoku ausgerichtete Etablissements um das Kabuki konzentriert waren, konnte
man Nanshoku – gleichermaßen ein Teil des Lebens wie die Luft und das
Sonnenlicht – überall begegnen. Ganz im Gegensatz zu den abgeriegelten und
manchmal sogar mit einem Graben umgebenen heterosexuellen Vergnügungsvierteln
in den Großstädten, wie Yoshiwara in Edo. Männer und Jungen hatten höchstwahrscheinlich
mehr Handlungsfreiheit miteinander als Männer mit Frauen.
Angesichts der langen Tradition von Nanshoku ist es
nicht verwunderlich, dass hohe Amtsträger am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
bestürzt waren, als sie erfuhren, dass männlicher gleichgeschlechtlicher Sex
im Westen streng bestraft wurde, auch wenn der jüngere Partner damit
einverstanden war. Nach dem Umsturz des Schogunats galt in Japan für kurze Zeit
ein Gesetz, das gleichgeschlechtliche Handlungen untersagte. Dieses Gesetz
richtete sich gegen den Analverkehr und war von 1873 bis 1880 in Kraft, bis es
annulliert und durch eine Altersgrenze von zwölf Jahren ersetzt wurde, die 1907
auf dreizehn Jahre angehoben wurde. Heutzutage werden Altersgrenzen auf Präfektur-Ebene
festgelegt und sind sexuelle Beziehungen zu Personen unter achtzehn Jahren
verboten.
Literatur und Kunst
Die Entwicklung der Nanshoku lässt sich von den
mittelalterlichen Klöstern bis zu den Samurai und schließlich zu dem Stand der
Kaufleute in Edo, Kyoto und Osaka verfolgen. Zu den frühesten Darstellungen gehören
bemalte Pergamentrollen und Chigo-Geschichten (Akolythenliteratur), von
denen einige – etwa Chigo Kannon Engi aus dem vierzehnten Jahrhundert
– die buddhistische Konzeption von der Vergänglichkeit des Lebens in
ergreifender Weise zum Ausdruck brachten.
Einer der größten Liebhaber aus der japanischen
Literatur war Ariwara no Narihira, die Hauptfigur aus dem Klassiker Ise
monogatari. Als Junge war er das Thema des später berühmt gewordenen
Liebesgedichts 'Iwatsutsuji' (Azalien an den Felswänden), geschrieben von einem
unbekannten Priester aus dem neunten Jahrhundert.
Siebenhundertfünfzig Jahre später
stellte Kitamura Kigin, Poetologe des Schogunats, eine Anthologie zusammen, mit
dem Ziel, eine Übersicht über die alte Tradition der idealisierten Beziehungen
zwischen Jünglingen und Männern zu verschaffen. Er benannte die Sammlung nach
dem Gedicht.
Nanshoku war allgegenwärtig, wie Kigin bemerkt. In seinem Vorwort schrieb er,
dass Nanshoku '...nicht nur Höflinge und Adlige schmachten lässt (das ist
selbstverständlich), sondern auch tapfere Kämpfer. Sogar die Bergbewohner, die
Brennholz sammeln, haben gelernt, ihr Vergnügen im Schatten junger Bäume zu
finden'.
Kigin hat vielleicht nicht gewusst, dass seine
Anthologie während des Morgenrots des Genroku-Zeitalters (etwa 1688-1710)
erschien, als Nanshoku ihre höchste Blüte in der Kunst und der Literatur
erlebte. Wegen der großen Zahl meisterhafter Kunstwerke aus jener Zeit und
wegen des Eifers, mit dem das Publikum diese aufnahm, vergleichen Gelehrte das
Genroku-Zeitalter mit der Renaissance. Drei der größten japanischen
Schriftsteller erreichten damals den Höhepunkt ihrer Aussagekraft: Saikaku, der
den realistischen Roman in die japanische Dichtung einführte, Chikamatsu,
dessen Theaterstücke mit zu der Festlegung der japanischen Abhandlung über
Treue und heroische Tugend beigetragen haben, und Bashō, der Meister des haiku.
Ihara Saikaku schrieb feinfühlig über die Liebe
zu den Frauen – sein erster Roman, Kōshoku ichidai otoko (Das
Leben eines verliebten Mannes), prangerte zum Teil die Ise monogatari an
–, aber Nanshoku war gleichermaßen in seinem Werk wie im Alltagsleben präsent.
In seiner Sammlung von Erzählungen Nanshoku ōkagami; honchō waka fūzoku
('Der große Spiegel der männlichen Liebe: die Tradition der Liebe zu den
Jungen in unserem Land') steht Nanshoku im Mittelpunkt. Von diesem Buch, in dem
zwei Gattungen miteinander verknüpft werden, erhoffte sich der Osakan, dass es
sowohl bei der Samurai-Leserschaft im schnell wachsenden Edo als auch bei dem
etablierten Publikum von Kaufleuten und Handwerkern in Osaka und Kyoto ankommen
würde. In dieser Hinsicht war das Buch gelungen, denn nach der Veröffentlichung
im Jahr 1687 wurde es auf Anhieb zum Bestseller. Saikakus mit Schärfe und Humor
gezeichnete Figuren lassen sich in einer Weise von ihren Sehnsüchten leiten,
die uns heute immer noch bekannt vorkommt. Bei all ihren Schwächen und
Tugenden, bei all ihren Unzulänglichkeiten und Erfolgen sind sie
menschenfreundlich und zeigen uns etwas von uns selbst, was auch in ihnen
steckt.
Das Theaterstück, das sich Tsūsaburō
ansah, Shinjū yoigōshin, war eines der letzten Werke von
Chikamatsu Monzaemon. Es wurde 1722 uraufgeführt und hat sich seitdem immer im
Spielplan des Kabuki und des jōruri (Puppentheater) gehalten.
Chikamatsu benutzte Nanshoku im ersten Aufzug, um die Figur des Hanbei als
jemand darzustellen, der mit Weisheit aus gegensätzlichen Erfordernissen ein
Wahl zu treffen versteht und die Liebe über das Leben selbst stellt. Die Figur
des Koshichiro war fünfzehn oder sechzehn.
Im fortgeschrittenen Alter würde er
sich vielleicht selbst einen Jungen als Liebhaber zulegen und wahrscheinlich
eine Frau heiraten. Das Band zwischen ihm und Koichibei würde bestehen bleiben,
wobei von beiden erwartet würde, dass, sollten die Umstände dies erfordern,
der eine sein Leben für den anderen opfern würde. Das war ein Samurai-Ideal
und unterschied sich von der Realität der Geschäftswelt der Stadtbewohner, in
der sich Männer – und manchmal Frauen – die Gesellschaft von
Jungenschauspielern wie Hanai kauften.
Die Erotika, in denen Nanshoku dargestellt wurde,
waren als shunga (Frühlingsbilder) bekannt. Kitagawa Utamaro schuf
einige der schönsten Beispiele. Die Gesichtsausdrücke, mit denen er die
Menschen ausstattet, die Liebe machen, sind atemberaubend intim. Die Behörden
verhielten sich meist zurückhaltend, wenn es um Vorschriften für die bildende
Kunst ging. Aber es gibt eine Abbildung von Utamaro, die ihm fünfzig Tage Haft
einbrachte. Machiba Hisayoshi (um 1803-4) ist ein kolorierter
Holzschnitt, der den Herrscher Hideyoshi zeigt, wie er sich einem Page zuneigt
und ihm das Handgelenk streichelt. Nicht das Verhalten des verstorbenen Schoguns
erzürnte die Behörden, sondern die Tatsache, dass er abgebildet wurde:
Abbildungen von hohen Adligen waren verboten.
Die Shunga hatten auch ihre humoristischen Seiten.
Terasawa Masatsugus einfarbiger Holzschnitt Song (um 1770) zeigt den
Burschen Sukejirō, der einmal mitten in der Nacht seine Musikübungen
macht, um die Geräusche einer anderen, vergnüglicheren Beschäftigung zu
vertuschen, wobei der Künstler nichts zu raten übrig lässt. Nur schade für
Sukejirō, dass seine Eltern leichte Schläfer sind. Sie öffnen den
Wandschirm zwischen ihrem Bett und der Schlafstelle des Jungen. Mit verstörter
Miene sagt der Vater: 'Wie oft der bloß "den kleinen Mann" rauslässt!',
während sich die Mutter beklagt: 'Ist er schon wieder dabei? Der Junge hat ja
nichts als Sex im Kopf.' Mit missmutigem Gesicht bittet Sukejirō: 'Bringt
mich nicht länger in Verlegenheit und lasst mich schlafen gehen.'
Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert waren Werke mit
einem Nanshoku-Thema beliebt. Kigins Anthologie Iwatsutsuji wurde bis
1849 immer wieder neu aufgelegt. Jippensha Ikkus Tōkaidōchū
hizakurige (Auf Schusters Rappen über den Tōkaidō) von 1802 ist
ein pikaresker road novel, der von den Abenteuern eines
Mann-Jungen-Gespanns erzählt, das sich, sobald der Junge erwachsen ist,
entschließt, seinen Aufenthaltsort in Edo zu verlassen und eine
Entdeckungsreise durch Japan zu machen. Als ihre Abenteuer einmal begonnen
haben, wird von Sex zwischen den beiden nicht mehr gesprochen, aber ihre
Beziehung steht im Mittelpunkt des Buches, dessen Einleitung aus einer Häufung
von Nanshoku-Wortspielen besteht und dessen Personen den ganzen Roman hindurch
Nanshoku-Witze reißen. Tōkaidōchū hizakurige war ein
Riesenerfolg, machte seinen Autor berühmt und gab in den fünfziger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts Anlass zu zahllosen Nachahmungen.
Zwanzigstes Jahrhundert
Mit seiner Flotte moderner dampfbetriebener
Kriegsschiffe fuhr der amerikanische Kommodore Matthew Perry 1853 in die Bucht
von Uraga. Als er nahe genug an der Küste war, feuerte er seine Kanonen ab. Die
Japaner hielten sich am Ufer bereit, die Invasion abzuwehren. Sie waren mit
Musketen und Schwertern bewaffnet. Sie hatten noch nie ein Dampfschiff gesehen.
Der Besuch von Perry, der bezweckte, das Land zur Unterzeichnung unvorteilhafter
Verträge zu zwingen, war für Japan ein ähnlicher Bewusstwerdungsschock, wie
es neunzig Jahre später der Angriff auf Pearl Harbor für die Amerikaner sein
sollte.
Während sich Japan alle Mühe gab, die Industrialisierung
voranzutreiben, verschwand Nanshoku langsam, aber unaufhaltsam aus dem öffentlichen
Leben. Im Zuge der Einführung der neuen Disziplin der westlichen Psychiatrie
wurde Nanshoku schon bald gebrandmarkt. 1894 wurde ein Sammelband mit Werken von
Saikaku verboten. Die meisten Theaterstücke mit einem Nanshoku-Thema
verschwanden aus dem Spielplan des Kabuki und des Jōruri, darunter auch der
erste Aufzug von Chikamatsus Stück, das weiter oben beschrieben wurde. Viele
Werke gingen verloren.
Die Abendländer problematisierten
Nanshoku. Der
britische Diplomat W.G. Aston, dessen Übersicht über die japanischen
literarischen Traditionen aus dem Jahr 1899 die erste ihrer Art auf Englisch
war, bemerkte: 'Allein schon die Titel einiger [von Saikakus] Geschichten sind
zu schweinisch, als dass man sie abdrucken könnte.' Und er erläutert: 'ihre
Haupteigenschaft ... ist solcherart, dass eine eingehendere Beschreibung
ausgeschlossen ist.'
Aber Japans Ruf wurde von frühen Verfechtern der
Schwulenemanzipation beifällig aufgenommen, vor allem von Benedict Friedländer,
einem Mitglied von Magnus Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitärem Komitee,
und Edward Carpenter in England. Einige von Saikakus Nanshoku-Geschichten wurden
1927 ins Französische und 1928 aus dem Französischen ins Englische übersetzt.
Trotzdem wurde aus Charles Tuttles Übersetzung von Tōkaidōchū
hizakurige aus dem Jahre 1960 alles, was sich auf Nanshoku bezog, eliminiert und
wurde das Nanshoku-Thema in einer Einführung zu den zwölf Jahre später von
demselben Herausgeber veröffentlichten Saikaku-Geschichten als 'schändlich'
bezeichnet.
Auch heutige Kritiker bringen dem Phänomen nicht
immer Sympathie entgegen, wie aus einer Erläuterung zu Okumura
Masanobus 'Sexuellem Trio' (ca. 1738), hervorgeht. Diese Holzschnitt-Pergamentrolle,
hier abgebildet, zeigt einen Mann, der in ein Teenagermädchen eindringt,
während er den steifen Penis eines Teenagerjungen in der Hand hält, der
neben dem Mädchen liegt; womit vielleicht vorweggenommen wird, dass
er auch in den Jungen eindringen wird. Noch 1995 deutete ein japanischer
Gelehrter dies als '...eine angemessene Rache an dem Mädchen, das den
Jungen verführt hat. Das Mädchen und der Mann sind anscheinend glücklich,
nur der Junge ist unglücklich.' Aber wie Timon Screech bemerkt, gibt die
Pergamentrolle keinen Anhaltspunkt für diese Deutung: '...wieso
ist der Junge "unglücklich" (fuun) und worin besteht
diese "Rache" eigentlich?'
Das geistige Klima verändert sich. In den
vergangenen fünfundzwanzig Jahren ist auf Englisch eine Reihe ausgezeichneter
Schriften erschienen. Ein Heft der japanischen Zeitschrift Bungaku,
'Nanshoku no ryōbun: seisa, rekishi, hyōsho' (Die Domäne der männlichen
Liebe: Geschlecht, Geschichte, Repräsentation) aus dem Jahr 1995 bringt ein
gutes Dutzend Artikel, in denen neue kritische Perspektiven Gestalt gewinnen. In
seinem Film Gohatto (Tabu) aus dem Jahr 2000 nach dem Kapitel 'Maegami no
Sozaburō' aus Shiba Ryotaros Roman Shinsen-gumi Keppūroku
befasst sich der viel gerühmte Regisseur Oshima Nagisa ohne Zurückhaltung mit
dem Thema Nanshoku.
Im Westen hat sich die Erotik zwischen
Teenagerjungen und Männern nur am Rande der Kultur manifestiert. Von einigen
vereinzelten Ausnahmen abgesehen, ist diese Form der Erotik seit den Dichtern im
sefardischen Spanien, deren Oden in ihrer Gesellschaft erklangen, nicht mehr öffentlich
besungen worden. Michael Rocke hat die weite Verbreitung von Beziehungen
zwischen jungen männlichen Heranwachsenden und Männern im Florenz der
Renaissance dokumentiert.
Von jungen Kneipengehilfen bis zu Niccolò
Machiavellis Sohn Ludovico, laut Rocke waren solche Beziehungen so landläufig,
dass man sie nicht mehr als eine Subkultur bezeichnen kann. Aber obwohl es eine
gewisse Toleranz gab, bestand die einzige kulturelle Ausdrucksform in
missbilligenden Predigten von Geistlichen wie Savonarola. Angesichts der langen
und ganz öffentlichen Präsenz von Nanshoku werden vielleicht weitere
Nanshoku-Texte wieder entdeckt und übersetzt werden.